Ein trügerischer Blick - eine Fantasygeschichte von Kerstin Jäckel / Kurzgeschichten und Prosa

Ein trügerischer Blick 

(von  Kerstin Jäckel, Ende März 2003)

 

 

Wütend rannte er die Treppe hinunter, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen. Sein Kragen, aus gesteiftem, harten Leinen und mehreren weißen Seidentüchern, schnürte ihm den Hals zu.
„Nur weg hier“, schoss es ihm durch den Kopf, „Nur weg hier!“, 
Wie in einer tiefen Schlucht im Hochgebirge, mit sich unentwegt erneuernd verstärkendem Echo, hallte es durch seinen ganzen Körper wider, immer und immer wieder: 
„Nur weg hier ... weg hier ... weg ... weg hier“ .

Er spürte nicht, wie ihn seine gut trainierten Beine längst über den sorgsam gepflasterten Hofweg trugen, registrierte nicht die Dunkelheit, die der breite Torgang für kurze Zeit gleich einem Netz über ihn warf. 
Weder hörte er das hölzerne Ächzen der Zugbrücke unter seinen energischen Schritten, noch das heimtückische Klirren der Torketten. Es klang wie eine rhythmisch genüssliche Verheißung, ihn vielleicht irgendwann doch der grausigen Tiefe dieser ungeheuerlichen Abgründe zu überlassen, die vor vielen Jahrhunderten einem genialen Baumeister die Vision des unüberwindlichen Burggrabens aufgedrängt hatte.

Der junge Mann rannte ohne Blick für die karge, hügelige Landschaft, die sich nun gefügig vor ihm ausbreitete und ohne die Augen vor der schon recht tief stehenden, ungewöhnlich kräftigen Frühlingssonne zu schützen. 
Er ahnte auch nichts von den bewundernden Blicken der Mägde, die, voll bepackt vom Markt kommend, zum Schloss eilten, um die abendlichen Festlichkeiten in den dunklen stickigen Küchen vorzubereiten. Sie rochen nach Kräutern und Pilzen und dem Staub ihres weiten Weges. 
Enttäuscht folgten ihre fragenden Augen sehnsüchtig seinem unermüdlichen Lauf, bis er als kleiner Punkt mit der steinigen Umgebung verschmolz.

Wie durch Geisterhand gehalten, blieb er unmittelbar vor dem See am äußersten Rand des Schlossparks stehen. Schon der nächste Schritt hätte ihm unweigerlich ein schrecklich kaltes Bad eingebracht. 
Verwundert starrte er auf sich empört kräuselnde, zentrisch auseinander laufende Wellen, die seine so urplötzlich nach Halt verlangenden, schweren Reitstiefel mit feinen, voller Wucht ins Wasser geschleuderten Steinchenschwärmen, ausgelöst hatten.
Diese symmetrische und harmonisch anmutende Bewegung innerhalb regloser Umgebung ließ ihn allmählich wieder zu sich kommen.

Erstaunt begriff er nun erst, wie weit er vom väterlichen Schloss entfernt war, spürte den kühlen Wind fordernd durch die feuchte Kleidung bis auf seine glühende Haut vordringen und ihm spielerisch fröstelnde Schauer über den Rücken jagen. Geblendet von der sich bereits rötenden Sonne, kniff er die schmerzenden Augen zu und riss sich mit einem angewiderten Ruck die durchgeweichten Seidentücher vom Hals. 

Kopfschüttelnd und nach Atem ringend ließ er sich auf einem breiten Stein am Ufer dieses ganz und gar lautlos träumenden Sees nieder, der ihm den Eingriff in seine Unberührtheit offensichtlich wieder verziehen hatte und sich nun strahlend in seiner makellosen Perfektion spiegelte.

„Wie kann er mir das nur antun?“, stöhnte er leise auf. 
Ratlos sah er mit einem leisen Seufzer auf den See, und dieser zeigte ihm geduldig und klar, gleich einer Antwort, das auf seiner Haut schwimmende Spiegelbild eines am anderen Ufer ans Dickicht geschmiegten kleinen Häuschen, das sich scheinbar extra für dieses Bildnis die verdeckenden Zweige aus dem Anblick geschoben hatte.

„Ferrodia“ entfuhr es ihm freudig, und seine Augen fanden in diesem Augenblick ihr hoffnungsvolles Blitzen wieder. 
„Wenn mir überhaupt noch jemand helfen kann, dann ist sie es!“ 
Mit neu erwachter Energie sprang er auf und wandte sich eiligen, entschlossenen Schrittes unverzüglich dem schmalen Pfad um den See zu, der ihn schon so oft bereitwillig zu seiner geheimnisvollen Freundin geführt hatte.

In dieser Gegend gab es mehr sonderbare Wesen, als man in drei Tagen hätte aufzählen können. Aber Ferrodia übertraf all die Zwerge, Inglios, Magier, Drachen und Elfen in ihrer unvergleichlichen Art. 

Sie verkörperte auf unbegreifliche Weise gleich alle Geschöpfe in sich, hatte weder Alter noch deutbare Eigenschaften, ja, nicht einmal eine Gestalt. 
Immer überraschte sie ihn in einer völlig anderen Form, je nach Stimmung grauenvoll, schrecklich, zart oder schön. So hatte er keine Chance, sie auch nur annähernd zu ergründen. 
Und dabei kannte er sie schon so lange, dass ihre Freundschaft keinen Anfang hatte und ein Ende für ihn undenkbar war. 

Ferrodia erschreckte ihn gern, ohne ihm jemals ein Leid anzutun. Und doch überfiel ihn auch heute wieder ein Schauer, als er sich ihrem höhlenartigen, kantig zerklüfteten Häuschen näherte. 
Wie oft war sie urplötzlich aufgetaucht - als Baum, der blitzschnell seine Krone über ihn stülpte oder als riesiges Auge, das ihn ohne eine Chance des Entrinnens einfach überrollte und in sich einschloss. Sie war ihm als ein fürchterlicher Drache erschienen, der ihn in kalte Flammen einhüllte oder sie riss als plötzlicher Abgrund auf, in den er gnadenlos stürzte, um sich, zu Tode erschrocken, in ihrem Haus wieder zu finden. 
Niemals hatte sich eine ihrer unbeschreiblichen und doch Furcht einflößenden Arten der Einladung wiederholt. 

So nahe wie heute hatte er sich dem Haus niemals nähern können. Gehetzt sah er sich bei jedem seiner langsam gewordenen, tastenden Schritte nach allen Seiten um. Er spürte verschämt, wie sein Puls raste, und ertappte sich dabei, unentwegt die feuchten Hände am rau bestickten Satin seines Gewandes abzuwischen. 

„Wo bist du, Ferrodia?“, flüsterte er mit vor Anspannung versagender Stimme.

Qualvoll langsam schlich er in leicht gebückter Haltung dem Haus entgegen. Doch gerade als der ersehnte Eingang mit seiner merkwürdig klobig geschwungenen Klinke schon greifbar schien, gewahrte er über sich eine riesige Harpyie. 

In sicherer Erwartung ihres Sturzfluges versuchte er instinktiv, den Kopf hinter seinen blitzschnell abwehrend hochgerissenen Armen zu schützen. Er gönnte ihr und sich keinen Atemzug Freiheit von der scharfen Beobachtung ihres schnell tiefer ziehenden Kreisens, für die er all seine Aufmerksamkeit mobilisierte. 
„Diesmal nicht, teure Freundin!“ spürte er seine Sinne flüstern, „Nein, dieses Mal nicht!“

Und genau in diesem Augenblick sprang mit einem harten Knall die Tür hinter ihm auf. 
In einen Schrei des Entsetzens gehüllt, fuhr er herum. 
Aber nichts geschah. Das Haus stürzte sich heute nicht auf ihn und es verschlang ihn auch nicht, die unausgesprochene Einmaligkeit wahrend.
Er brauchte einige Sekunden, um seinen Puls wieder auf eine Intensität zu senken, die ihn aus der Gefahr einer Ohnmacht entließ. 

Erst danach berührte er mit zitternder Hand die schwere Tür aus rotem Eisen. Sie war überraschend kalt und bewegte sich gegen jede Erwartung völlig widerstandslos. Fast hatte er das Gefühl, als zöge die Tür seine Hand, so freiwillig gab sie nun den Blick in das Innere des Häuschens preis. 
Wie er schon aus der Vergangenheit wusste, barg dieses von außen so winzig scheinende Höhlenhaus eine riesige Halle in sich, die durchaus einem Vergleich mit dem Ballsaal seines Schlosses standhalten konnte. 

Auch wenn ihn dieses Wunder immer wieder aufs Neue zu faszinieren vermochte, so war es nun nicht der Anblick dieses geheimnisvollen, etwas düster dunstigen Gewölbes, der ihn reglos erstarren ließ und vollkommen wehrlos ganz in seinen Bann zog. Mitten im Raum saß auf einer grob geschnitzten und wuchtigen Holzbank das schönste Mädchen, das er jemals gesehen hatte.
“Ferrodia, bist du es?“, stammelte er fassungslos. „Du bist ja wunderschön!“

Lächelnd stand sie auf. 
„Oh, der Herr Lord Christian der Zweite von Erio persönlich. Was für eine Ehre!“
Ein kokettes Lächeln spielte um ihren vollen roten Mund und in ihren Augen blitzte angriffsbereiter Schalk.

“Was darf ich heute für Sie tun, Gnädiger Herr? Ärgert Sie wieder der Hauslehrer und vermissen Sie seine vielleicht doch voreilig geheilte Sprachlosigkeit? Oder sollen die gerupften Hühner aus der Küche wieder einmal das Fliegen erlernen? Wollen wir die Tinte des Herrn Vaters für dieses Mal hübsch Grün färben oder lehren wir die Berater des Königshauses nun auf einem Bein durch den Palast zu hüpfen? Zweibeinig war es ja auch recht lustig, aber eigentlich fast zu leicht.
Wie wäre es, wenn wir das ganze Schloss für einen Tag auf den See stellten? Direkt in die Mitte, ohne Brücke oder Seile. Das gäbe ein herrliches Durcheinander! 
Meinen Sie nicht auch?“

Sie lächelte ihn offensichtlich belustigt an, doch ein vieldeutiger Blick streifte ihn und ließ ihn leicht erschauern.
Noch ehe er sich dessen wirklich bewusst werden konnte, fuhr sie in fast unverändert fröhlichem Ton fort: „Aber aus Ihnen ist nun ein kecker junger Mann geworden. Vielleicht tragen Ihre Träume ganz neue Gewänder und Sie würden gern unsichtbar die Gemächer der Mägde heimsuchen?“ 
Sie lachte übermütig. "Geben Sie es ruhig zu, mein erlauchter Freund!“

Christian errötete verlegen und besann sich dann doch, wenn auch mit etwas Mühe, auf sein eigentliches Anliegen. 
“Meine liebe Ferrodia,“, hob er an und verstrickte sich sofort wieder in ihre strahlenden Augen, aus denen augenblicklich der funkelnde Spott gewichen war und die sich ihm nun weit geöffnet, in dunkelblauer Aufmerksamkeit, zuwandten. 
„Ich weiß jetzt, was sie wirklich ist! Sie ist das Meer, sie ist unendliche Weite, Sturm und Macht und das Leben selbst.“, dachte er vollkommen verwirrt.
“Nun?“ Erstaunt schreckte er wie aus einem Traum auf und suchte verzweifelt nach seinen Gedanken, die allem Anschein nach wenig gewillt waren, zur Realität zurück zu finden.

Er straffte sich und sah vorsichtshalber auf das Feuer, das gleich neben ihr in einer riesigen Schale sanft loderte, ohne jedoch entdecken zu lassen, wovon es gespeist wurde. Es verbreitete ein wunderbar warmes Licht, dessen flackernde Bewegungen die feinen Züge ihres Gesichts in weicher Räumlichkeit umschmeichelten.

Bevor er sich jedoch in diese Betrachtungen erneut verlieren konnte, begann er ihr zu berichten:
“Meine liebe Ferrodia, ich bin in höchster Not und ich weiß mir keinen Rat. Mein Vater trug mir als Erbfolgen die Heirat mit der Tochter des Königs von Berilagia, Katharine, an.
Ich will aber auf gar keinen Fall schon heiraten! 
Gerade erst habe ich die Bevormundungen vom Vater und all den dummen Beratern und Lakaien abstreifen können, und da soll ich mich nun in die wahre Gefangenschaft fügen?“ 
Wieder erfasste ihn eine wütende Verzweiflung. 
“Es ist doch nur ein Handel zwischen Herrschern, ein Verschmelzen, der die magische Unbezwingbarkeit von Erio mit der Fruchtbarkeit des Landes Berilagia vereinen soll.“

“Ist diese Katharine denn eine solch schreckliche Bedrohung?“, fragte Ferrodia mit einem sanften, gefährlich betörenden Lächeln. 
„Ich kenne sie nicht und ich will sie auch nicht kennen!“, platzte er ungestüm hervor und fügte leise hinzu „Wer fragt nach meinem Herzen, das mir gerade zu zerspringen droht?“
„Und wenn ich dich nach deinem Herzen fragte“, sagte sie ernst, „was würdest du mir antworten, wovon es träumt?“

Einen schwebenden Augenblick lang, der jedes Maß für die Zeit vergessen ließ, legte sich Stille über den Raum und hüllte beide in träumendes Schweigen.
„Jetzt, da ich dich gesehen habe, wird es nur noch von dir träumen können.“, antwortete er leise und versank wieder in ihren Augen, die sich gerade zu einem blauen Schwarz verdunkelt hatten, wie das Meer im Sturm.

„Was kann ich tun?“, fragte sie ebenso leise zurück. 
„In die Zukunft sollte man sehen können, um zu wissen, wie ernst die Lage ist, wie blutig die Entscheidung...“, sann er nachdenklich.

„Das ist leicht.“, entgegnete sie und schon kehrten ihre Augen zu ihrem tiefen Blau zurück.



Sogleich führte sie ihn zu den eigentümlich gerundeten, langen Regalen, die wie durch ein Wunder am sanften Bogen der Wände hafteten und mit den unzähligen Töpfen, Schalen, Karaffen und merkwürdigsten Werkzeugen übervoll bestückt waren. Etwas unbeholfen und mit leise zehrendem Unbehagen setzte er sich an den riesigen Tisch, der sich schier unter der sich stapelnden Last zu biegen schien. 
Mit flinken, geübten Handgriffen mischte Ferrodia undeutbare festere Bestandteile in Flüssigkeiten, deren genauerer Augenschein ihn keineswegs gelüstete.

“Welche Zeit in der Zukunft möchtest du sehen?“, fragte sie, ohne ihre Tätigkeiten zu verlangsamen oder gar zu unterbrechen. 
„Ach, das entscheide du. Hauptsache, ich vermag darin zu erkennen, was sie für mich bereit hält.“, entgegnete er unsicher lächelnd.

Zufrieden stellte sie ein großes rundes Gefäß vor ihn und öffnete den Deckel mit den Worten, 
„Hier, mein Freund, gewähre ich dir einen Blick in dein Leben, so wie es sein wird.“ 

Trübe Nebel stiegen aus diesem scheinbar bodenlosen Kessel auf und verdichteten sich vor seinen Augen zu einer rotierenden Wolke. Erst schemenhaft und dann immer klarer sah er das Gesicht eines jungen Mannes, dessen Kleidung völlig wirr an ihm herab hing. Erst jetzt offenbarte das zunehmend deutlicher werdende Bild sein eigenes Zimmer. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen erkannte er sich selbst. Er stand in der Fensternische an den breiten Balken gelehnt, wie er es gern und oft tat, doch er weinte hemmungslos und in tiefster Bitterkeit. In der Hand hielt sein Ebenbild ein rotes Tuch, das es immer wieder schluchzend an die Stirn presste.

„Oh Himmel, welch eine Pein!“, entfuhr es ihm tief erschüttert und Hilfe suchend sah er zu Ferrodia. 
„Liebe Freundin, rette mich! Rette mich vor dieser Hochzeit und dieser Frau, bitte!“
Ferrodia sah ihn streng an und fragte mit bedeutungsvoll angehobener Stimme: 
„Sind Sie sicher, Christian der Zweite, Thronfolger von Erio? 
Sind Sie sicher, dass dies Ihr ausdrücklicher Wunsch ist?“
„Ja Ferrodia, ich flehe dich an!“

„So sei es denn.“, sagte sie feierlich und zog aus den unüberschaubaren Tiefen ihrer Regale zielsicher ein mit vielerlei feinen Figuren beschnitztes hölzernes Kästchen hervor, das sie vorsichtig öffnete und lange andächtig ansah. Darin lag auf feinem kobaltblauen Samt eine goldene Anstecknadel mit einem rotem Rubin, der mit den gleichen Figuren umschlingend umrandet war, die auch das Äußere der Schatulle schmückten.

Verwundert sah er seine wunderschöne Freundin an, neigte sich vor, um die Verzierungen genauer sehen zu können und erkannte ihre Gestalt in vielen verschiedenen Varianten. 
„Das ist zauberhaft.“, bewunderte er dieses filigrane, einzigartige Kunstwerk.

“Vorsicht! Nicht anfassen!“, warnte sie. „Es gehört dir, denn dieser Schmuck wird deinen Wunsch erfüllen.“, fuhr sie nun mit dunkler, rau klingender Stimme fort. 
„Höre mir gut zu, mein Freund! Diese Nadel ist vergiftet und die feinste Berührung mit ihrer Spitze führt unweigerlich zum Tode. 
Und wisse: Nicht einmal ich vermag ihre Wirkung zu verhindern.“ 
Mit diesen Worten verschloss sie das Kästchen wieder, und erst der feine Klacks, mit dem das Schloss zuschnappte, ließ auch ihr Lächeln wieder erwachen, auf das er schon fast sehnsüchtig gewartet hatte.

„Oh, ich danke dir, meine liebste Freundin. Auf ewig werde ich dir dankbar sein!“, jubelte er mit all der Begeisterung, die sich in diesem Moment aus Angst und Verzweiflung in ihm löste.

„Du musst nun fort.", sagte sie mit einer traurigen Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloss, und lächelte ihn dabei aus den strahlendsten blauen Augen an, die er jemals gesehen hatte. 
„Ja. Natürlich, du hast Recht. Dann werde ich mich jetzt auf den Weg machen.“, entgegnete er gehorsam und nahm noch wahr, wie ihr Bild vor seinen Augen verschwamm. 

Es klopfte energisch an der Tür. 
Verwirrt riss er die Augen auf und sah seinen Vater sichtlich erregt in sein Gemach stürmen. „Sohn, wo haben Sie nur gesteckt? In einer Stunde schon erwarten wir die königliche Gefolgschaft von Berilagia. Und sie sind noch nicht einmal angekleidet!“, schimpfte er aufgebracht.
Erleichtert über dessen Eile starrte Christian auf die Hoffnung in seinen Händen, stellte sie auf einen kleinen Tisch mit einem roten Tuch und übergab sich beruhigt und gelassen dem Lauf der Dinge.

Pünktlich fuhren die reich geschmückten Kutschen des fremden Königreiches vor. Christian stand hinreichend herausgeputzt neben seinem zufriedenen Vater und erwartete in unbeteiligter, kindlicher Neugier das Erscheinen der Prinzessin.

Als sie endlich, nach ihrem etwas beleibten Vater, mit einem kühnen Sprung der Enge und Dunkelheit ihres Gefährtes entkam, starrte er sie entsetzt und überglücklich zugleich an.
„Ferrodia? 

Sie wandte sich ihm mit einem Lächeln zu, das ihm nur allzu vertraut schien: 
„Katharine, mein Herr. Katherine.“
Und jetzt sah er es: Ihre Augen waren wundervoll blau, jedoch nicht von der drohenden Tiefe, wie er sie in der letzten Nacht erlebt hatte und sie leuchteten wärmer. Das Feuer der Schale schien in ihre Augen umgezogen zu sein. 

Die nächsten Tage vergingen ihm wie ein Traum, angefüllt von langen Spaziergängen, ihrem übermütigen Lachen, vertieften Gesprächen, ausgelassen fröhlichen Tänzen und ihren wunderschönen Augen. Niemals hatte sich Christian glücklicher gefühlt. 
Jede Sekunde der Trennung empfand er als Qual. Bei dem Gedanken an seine panische Ablehnung und die so unbegründeten Ängste konnte er nur noch verständnislos den Kopf schütteln.

All die Qual der Ungewissheit des Morgen war vergessen. Er liebte jeden Tag, der ihm die Gesellschaft dieses Mädchens versprach. Und selbst an der Schwelle des Abends, im Moment des Augenschließens und seines Ergebens an die Mächte der Nacht genoss er die Aussicht auf das Auftauchen im Morgengrauen eines neuen, verliebten Tages. Lächelnd schlief er in der Vorahnung ein, bald wieder ihre Nähe fühlen, ihr Lachen erwidern und ihre Worte von roten Lippen sammeln zu dürfen. 
Niemals hätte er sich vorstellen können, eines Menschen derart zu bedürfen, so von einem Wesen erfasst zu sein und eine Frau auf so schmerzende Weise zu begehren, dass er fast fürchtete, lebendigen Leibes verbrennen zu müssen, wenn ihr Atem zufällig seine Wange streifte. 
Die Welt schien in ein neues Licht getaucht, deren Sonne nur einen einzigen Namen kannte: Katherine.

Am ersehnten Morgen ihrer Hochzeit kam er früher als sonst von seinem üblichen Ausritt zurück. Er war durch fliehende Nachtnebel und schlafende Wiesen der glutroten Verheißung der Morgensonne entgegen geritten. Sein Herz küsste den letzten Stern und zog übermütige Kreise um die ersten voreiligen Sonnenstrahlen, um mit ihnen um die Wette zurück zum Schloss zu jagen. 

So ungestüm gab er dem Pferd die Sporen, nur um Katherine recht bald in seinem Zimmer zu treffen, wie sie es vereinbart hatten. Vor all dem Hofstaat wollte er sie in ihrem Hochzeitskleid bewundern wollen. Ihm allein sollte der erste Blick auf die schönste Braut aller Zeiten gehören. 

Atemlos rannte er die Treppen hinauf und öffnete voll glücklicher Ungeduld die Tür.
Doch sie stand nicht wie erwartet vor ihm, schön, wie eine Fee, gerade erst geboren in den magischen Tiefen des benachbarten Waldes. 
Ein wenig enttäuscht und nach Luft ringend betrat er den Raum und wandte sich zum Fenster, um die Vollendung des Sonnenaufgangs zu genießen, dessen Erwachen er so ungestüm begleitet hatte.
Doch trotz des Farben dieses herrlichen Morgens, dessen Licht die Nuancen des Grün in all seinen Spielarten gerade erst für diese Welt gebar, verharrten all seine Sinne nur an der Tür, sehnsüchtig wartend auf ein zaghaftes Klopfen.

Ein leises Erschauern ließ ihn erahnen, dass er nicht so allein war, wie er geglaubt hatte. Ganz langsam, keinen Atemzug wagend, wandte er sich um - und sah Katherine.
Fassungslos starrte er sie an und sein Herz verweigerte ihm für einen Moment jeden Dienst.

Sie saß in sich zusammengesunken, an seinen kleinen Tisch gelehnt, mit einem liebevoll freudigen Lächeln im Gesicht und gebrochenen Augen.
In schrecklichstem Verstehen stürzte Christian auf sie zu und riss er ihr erbleichend das zartbestickte Tischtuch vom Schoß. 
Dort lag die verhängnisvolle Nadel mit den Ebenbildern seiner Liebe in ihren Händen. Unschuldig schön glänzte der rote Rubin auf der weißen Seide ihres Brautkleides.

Der sterbende Schrei seines Schmerzes hallte im gesamten Königreich wider. 
Und alles Leben verharrte für einen Augenblick im Klang dieses Todes.

Das rote Tuch verzweifelt weinend an die Stirn gepresst, starrte er blicklos in Richtung des Sees, der nun ein geheimnisvolles, kantiges kleines Haus auf ewig verleugnen wird.

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