Nicht nur eine SMS
Kerstin Jäckel © 6/2003 


Herr Scholz betrat langsamen Schrittes das Lehrerzimmer. Gerade begann die dritte Stunde und damit die erste seiner zwei Freistunden - für ihn vor allem Zeit, die Englischarbeiten der Zwölfer zu korrigieren. Gestern Abend war er einfach zu müde und hatte sich nach den ersten Klausuren großzügig selbst die Frist auf heute verlängert.
Ein wahres Festival der Schusselfehler hatte seinen roten Federhalter über das Papier tanzen lassen.
Und dabei liebte er doch die leisen Melodien, die seine Augen ruhig über der Schrift hin und her schwingen ließen und seiner Feder, in harmonischem Rhythmus, einen feinen Schwung am Ende jeder Zeile gestatteten. Doch dieses Vergnügen war leider eher selten. 
Und bei der Rückgabe würden sie ihn wieder so enttäuscht ansehen, als hätte er die Fehler in ihre Meisterwerke hineingezaubert. Er mochte diesen Augenblick nicht. Hatte ihn nie gemocht.
Wo waren sie aber auch nur dauernd mit ihren Gedanken? 

Gewohnt und unbemerkt hatte er sich, wie immer, an den Platz gesetzt, der ihm nun seit beinahe 30 Jahren, ohne Absprache oder Schild, zugewiesen schien. Niemals hätte ein Kollege ihn in Anspruch genommen. Selbst Referendare oder Praxisstudenten wussten auf unbegreifliche Weise sofort, dass dieser Stuhl reserviert ist.
Er registrierte nicht einmal, dass er keinen prüfenden Blick für seinen Platz mehr erübrigte, wenn er ins Lehrerzimmer kam. 
Mit einem unhörbaren Stöhnen hob er die alte schwere Ledertasche auf seinen Schoß, um die sorgsam in einem braunen Umschlag zusammengefassten Klausuren herauszunehmen.
Erst jetzt nahm er, fast überrascht, seine Umgebung wahr. Einige seiner Kollegen unterhielten sich ausgelassen fröhlich mit dem Referendar, der seit reichlich drei Wochen an dieser Schule war. Herr Scholz sah sein breites Grienen und lächelte unwillkürlich. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger war dieser ein ganz aufgeweckter, pfiffiger Bursche, dem der Schalk aus allen Knopflöchern lachte. „Die Schüler werden ihn mögen.“, schoss es ihm durch den Kopf.

„Die saßen in der Kneipe, alle vor ihrem Bier, das schon völlig schal aussah. Fünf von ihnen telefonierten und die restlichen zwei tippten eifrig an wer weiß wie vielen SMS“, erzählte er gerade lachend. „So ging das bestimmt eine halbe Stunde lang. An diesem Tisch piepte und klingelte es pausenlos. Niemand hatte Zeit“.
„Ja“, amüsierte sich Herr Boker, ein Biologielehrer und langjähriger Kollege, den auch nur noch zwei Abiturstufen von der Pensionierung trennten, „die Zeiten haben sich geändert. Früher haben die Wirte verdient, heute bieten sie nur noch die Arena, in der sich die Telekom austoben kann. Allerdings kassieren die bei mir auch nicht gerade bescheiden.“, gab er verschmitzt zu.

„Schon verrückt“, lachte der Referendar wieder, „Ich habe mich gefragt, wozu sie sich überhaupt getroffen haben? In dieser Stunde haben sie keine fünf Sätze miteinander gewechselt, aber für alle schien das völlig in Ordnung zu sein.“ 
Herr Scholz konnte ein nachdenkliches Lächeln nicht unterdrücken. 
Wie oft sah er seine Schüler in den Pausen genau so zusammenstehen. Und so manches Mal ertappte er sich bei dem Gedanken, wie gern er wüsste, was sie sich da wohl ständig, so eifrig und ganz und gar versunken, mit diesen winzigen Tasten mitzuteilen hätten.

Fräulein Müller bestätigte belustigt, „Genau! Ich frage mich auch, was wohl die Eltern zu ihren Telefonrechnungen sagen. Während meiner S-Bahnfahrt hierher, die wirklich nur 10 Minuten dauert, bringen manche Jugendliche es tatsächlich fertig, mindestens drei oder vier Nachrichten hin und her zu schicken. Was das kostet!“ Und etwas schadenfroh, wie ihm schien, fügte sie noch hinzu “Na, mein Geld ist es ja nicht!“

Der Unterton seiner Kollegin ließ ihn aufmerken. Sollte sie als junge Pädagogin die Schüler nicht besser verstehen können? 
Es lag doch nicht einmal eine Generation zwischen ihnen. Er betrachtet ihr Gesicht genauer, sah die deutlichen und strengen Falten zwischen ihren Augen und fragte sich im Stillen, was ihr wohl so früh die ihren Jahren entsprechende Leichtigkeit hatte nehmen können.

Nun beteiligte sich auch eine andere junge Lehrerin interessiert am Gespräch. Sie wies auf ihren doch schon ansehnlichen Bauch, der daran erinnerte, dass sie bereits in wenigen Wochen ihren Mutterschaftsurlaub antreten würde, und sagte mit entschiedener Stimme „Also mein Kind wird erst mit 15 Jahren ein Handy bekommen und dann mit so einer PayCard. Da kommt am Anfang des Monats ein fester Betrag drauf. Und wenn das nicht reicht, muss es die Karte vom Taschengeld auffüllen. So einen Unsinn, wie er hier bei den Schülern läuft, fange ich gar nicht erst an.“

Ganz erstaunt hob Herr Scholz den Blick von der ersten Klausur, auf die er sich nun gerade zu konzentrieren versucht hatte. 
Erwartete Frau Becker nicht gerade ihr erstes Kind? 
Verwirrt betrachtete er ihre weichen Gesichtszüge und ihr selbstverständliches Lächeln.
„So klar und langfristig liegen die Planungen für ein neues Leben fest, bevor es auch nur das Licht dieser Erde erblickt hat?“, dachte er verblüfft. „Sollten nicht erst einmal die ersten Strampelhöschen auf dem Kinderbettchen zurechtgelegt werden, die Bücher zum Vorlesen ausgesucht und die Erinnerungen für die Gute-Nacht-Lieder aufgefrischt werden?“ 
Unwillkürlich lächelte er, „Du meine Güte, bis dieses Menschlein 15 Jahre alt ist, werden den Kindern die Handys am Ohrläppchen angebracht oder werden als Haarspange direkt ans Gehirn angekoppelt. Boker könnte mir da sicher einiges erzählen.“

Inzwischen war er dem Gespräch der Kollegen schon eine Weile nicht mehr gefolgt und wandte sich nun fast erleichtert wieder dem vor ihm liegenden Blatt zu.
Doch kaum war es ihm gelungen, wenigstens eine halbe Seite der ersten Klausur durchzusehen, die zu seinem Ärger bereits 7 Fehler aufwies, obwohl ja noch zwei komplette Seiten für seine Prüfung ausstanden, da klingelte mit einem ziemlich aufdringlich lauten Ton ein Handy ganz in seiner Nähe. 

Er schreckte hoch und vernahm erstaunt das amüsierte laute Lachen seiner Kollegen. „Ja, ja, da wissen wir also endlich, woher unsere Schüler ihre Handybegeisterung haben!“, kicherte Frau Becker und die anderen stimmten gleich noch einmal in ihr Lachen ein. Herr Scholz verstand die Blicke seiner Kollegen, die sich alle belustigt auf ihn richteten, als Aufforderung, in ihren Spaß mit einzustimmen und sah sich neugierig nach dem Empfänger des Anrufs um. Doch niemand hielt ein Telefon in der Hand. 

In diesem Moment entdeckte er ein Leuchten aus seiner offenen Tasche, und spürte, wie ihm diese Beobachtung die Röte ins Gesicht trieb. Sein eigenes Handy? Wer könnte denn das nur sein? Etwas umständlich und sichtlich verlegen fingerte er das Gerät unter dem Tisch aus der Tasche hervor. Seine Kollegen bemerkten wohl, wie peinlich ihm die Situation war, und wandten sich nun der gerade in den Raum kommenden Frau Schmidtler zu, die sie sogleich, nicht ohne ein verbleibendes amüsiertes Lächeln um den Mund, über ihr aktuelles Gesprächsthema aufklärten. Sie war eine langjährige Pädagogin, die über eine ausgeprägte Strenge verfügte. Sofort verfinsterte sich deren Mine: 
„Ich würde Handys an den Schulen generell verbieten. Wie sollen sich die Schüler auf die kommende Stunde konzentrieren, wenn sie nur diese Dinger im Kopf haben? 
Und zum Betrug in Klausuren fordern die doch förmlich auf. Man ist ja nur noch auf der Hut vor diesem technischen Firlefanz“

Herr Scholz war inzwischen auf seinem Stuhl etwas tiefer gerutscht und hielt das Telefon fast unter dem Tisch, als er die kleine seitliche Taste drückte, mit der sich die angekommene Nachricht lesen ließ.
„Hallo Opa, bin in Not: Was heißt: serene ? Bitte dringend! H.“

Vor Verblüffung verstand er kein Wort. Das war von Hannes? Vielleicht hatte sich auch jemand in der Nummer vertan. Was sollte das? Er konnte sich keinen Reim darauf machen und tippte noch einmal auf „Lesen“.
„Hallo Opa, bin in Not: Was heißt: serene ? Bitte dringend! H.“
Nein, nein am Ende „H.“? Es musste schon Hannes sein. 
Doch plötzlich begriff er: “Ja natürlich, heute ist in den 10. Klassen die Zentralklausur Englisch.“ Er schüttelte entrüstet den Kopf, „So ein Bursche!“ 
Na, so weit käme es noch, dass er einen elektronischen Spickzettel liefern würde. Wie konnte Hannes nur glauben, dass er, als Lehrer, ihm beim Schummeln helfen würde?

„Also in unseren Zeiten gab es so etwas nicht! Man fragt sich doch manchmal, wo sie ihren Verstand haben.“, hörte er Frau Schmidtler sich empören.

„Gab es nicht?“, fragte er sich da zweifelnd, ohne zu wissen, worauf sich ihr Ausspruch eigentlich bezogen hatte. 
„Na ja, sicher nicht mit den heutigen Mitteln. Natürlich nicht. Aber macht das wirklich einen Unterschied zu den heutigen Streichen und dem verständnislosen Kopfschütteln der jetzt Erwachsenen?“

Unwillkürlich spürte er den eisernen Griff des Vaters in seinem Genick. Er fühlte wieder den Schmerz und Schreck, als der seinen Kopf hart und wütend in Richtung des mühsam humpelnden Huhns drehte, dem er, gemeinsam mit seinem Freund Wolfgang, ein Bein abgeschossen hatte. 
Er fuhr sich mit der rechten Hand massierend über den Nacken.
Sie hatten heimlich Schwarzpulver gemixt, Wolfgang hatte herausbekommen, wie das geht. Natürlich hatten sie das Huhn einfach nur erschrecken wollen, als sie den Stein aus der Besenhalterung schleudern ließen. Er erinnerte sich noch genau an seine beim Anzünden der Schnur vor Aufregung feuchten und leicht zitternden Hände. 

Lächelnd schüttelte er den Kopf. Nein, so viel Verstand hatten ihre Streiche auch nicht bewiesen. Bis heute stieg ihm die Schamröte ins Gesicht, wenn er daran zurückdachte, wie sie eine alte Geldbörse an einem Zwirnsfaden auf den Weg gelegt hatten, um sie kichernd und mit hämischem Vergnügen geschickt ins Gebüsch zurücksausen zu lassen, wenn sich irgendein altes Muttchen verwundert danach bückte. 
Gott, sie waren bestimmt nicht harmloser als die Hallodris heute. 

Und natürlich hatten sie auch in der Schule geschummelt. Und wie unverfroren! Er war ziemlich klein gewesen und hatte deshalb ganz vorn in der Mittelreihe gesessen, direkt vor dem Lehrer. Die Spickzettel hatte er einfach mit Spucke direkt an den Lehrertisch geklebt, der seine Bank um etwas mehr als 10 cm überragte. 
Alle, die um ihn herum saßen, starrten immer sehr konzentriert und angestrengt nachdenkend auf die Front des Lehrertisches. Erstaunlich, dass sie niemals aufgeflogen sind.

Er lächelte. Seinen Schülern ging es da wesentlich schlechter. Bei einem Test spazierte er immer erst einmal zum Ende des Klassenraumes, um ihn sich in Ruhe und gründlich aus der Perspektive seiner Pappenheimer anzusehen. Aber niemals in diesen vielen Jahren war jemand auf seinen Kindheitstrick gekommen. Vielleicht ja auch nur, weil die Schlingel natürlich wussten, dass er nicht vorn am Lehrertisch blieb?

Nachdenklich betrachtete er das Telefon mit dem kleinen Briefchen auf dem Display, das er gedankenverloren noch immer unter dem Tisch in seiner linken Hand hielt und dachte: 
„Wer weiß, wie sie es heute anstellen, ohne dass ich es merke. An welche Raffinesse werden sie sich wohl, irgendwann später einmal, noch als Großeltern, schmunzelnd zurück erinnern?“

Entschlossen schob er die Klausuren zur Seite und legte sein Handy auf den Tisch.
Und mit einem spitzbübischen Blitzen in den Augen sah er zu, wie seine Finger, etwas mühevoll, die Zeichen „serene = heiter, gelassen“ auf dem Display auftauchen ließen und genoss mit einem warmen Lächeln den entschlossenen Druck auf die Taste „Senden“.



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