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Die Suche nach einem starken Freund

(von Kerstin Jäckel, März 2003)
Gutenachtgeschichte/Märchen
Tobi, ein kleiner Mäusejunge, saß traurig neben seiner besten Freundin. Na ja, eigentlich war Goldköpfchen auch sein aller einziger Freund.
Sie lief ihm niemals weg, um lieber mit anderen Mäusen zu spielen, mochte Fußball auch nicht, würde ihn nie anschreien und sie wartete immer auf Tobi. Er konnte ihr alles erzählen. Das liebte er am meisten an ihr.
Und Tobi sorgte jeden Tag für sie. Gleich am Morgen holte er ihr von der kleinen Quelle eine große Schale Wasser, und die war ziemlich schwer, denn sie hatte immer großen Durst.
Goldköpfchen war nämlich eine kleine gelbe Blume.

Heute sah Goldköpfchen wirklich besonders hübsch aus. Ein Tropfen glitzerte und glänzte auf ihrem schönsten Blatt ganz herrlich in der Sonne. Eigentlich wäre sie sehr stolz auf diese schillernde Perle gewesen. Sie hoffte immer, dass Tobi beim Gießen ein bisschen kleckern würde, um sich für ihn mit so einer kleinen Sonne schmücken zu können.
Doch heute hingen ihre gelben Blütenblättchen ganz blass herab. Heimlich ließ sie seine Träne zum Boden gleiten und sah traurig zu, wie der Boden sie verschluckte.
Sie wusste ja, dass Tobi sich schämte, wenn er weint. Darum tat sie immer so, als würde sie es gar nicht bemerken. Er war doch ihr bester Freund.

"Warum haben die Mäuse dich denn weggeschickt?", fragte sie leise.
"Seilziehen", schluchzte Tobi. "Niemand will mich in seiner Mannschaft haben, weil ich nicht stark genug bin. Ich durfte wieder nicht mitmachen."
"Ach, dafür bist du der liebste Freund auf der Welt.", versuchte Goldköpfchen ihn zu trösten.
Er wohnte ganz allein im großen Turm. Sie wusste schon, dass die anderen Mäuse nichts mit ihm zu tun haben wollten.

"Ich müsste einen ganz starken Freund haben, dann könnte ich es ihnen aber zeigen!" seufzte Tobi verzweifelt.
Goldköpfchen wedelte sehr beschäftigt einige Pusteblumensternchen von ihren Blättern. "Ja, wer wäre denn richtig stark?", fragte sie verlegen.
"Ich weiß auch nicht.", murmelte er versonnen, "Was meinst du? Wer ist für dich richtig stark und könnte dir helfen?"
"Du!", sagte Goldköpfchen schnell und strahlte ihn an.
"Nein, viel größer und stärker als ich!", forderte Tobi ungeduldig.
Sie dachte so angestrengt nach, dass sich schon ihre gelben Blütenblätter kringelten. "Ich weiß es!", jubelte das Blümchen plötzlich.: "Der Baum ist so riesengroß und so stark und schon so alt. Niemand ist stärker als er!"
Tobi sah am Baum entlang, ganz hoch hinauf bis zu seinen Wipfeln, wie er ihn noch niemals angesehen hatte und staunte. Bisher kannte er eigentlich nur die Wurzeln und seinen Stamm.

Und schon stürmte der Mäusejunge aufgeregt davon. Vor dem Baum setzte er sich ganz aufrecht auf die Hinterpfötchen und fragte:
"Lieber Baum, du bist sooo groß. Sag mir, bist du der Stärkste auf der Welt und willst du mein Freund werden?"
Der Baum wiegte eine Weile seine mächtige Krone hin und her und rauschte dann: "Kleiner Mäuserich, ich bin schon längst dein Freund, denn du zernagst nicht meine Wurzeln, wie die anderen Mäuse. Aber ich bin nicht der Stärkste auf der Welt. Die Quelle ist viel stärker als ich. Ohne sie müsste ich vertrocknen."
"Vielen Dank, mein lieber Freund", flüsterte Tobi, ganz rot vor Überraschung. "Ich werde dich wieder besuchen."

Er rannte zur Quelle: "Guten Tag, liebe Quelle.", sagte er artig. "Du bist sogar stärker als der große Baum. Sag mir, bist du die Stärkste auf der Welt und willst du mein Freund werden?"
"Kleiner Tobi, du bist schon so lange mein Freund, weil du mich jeden Tag besuchst, um die kleine Blume zu retten, die ich nicht erreichen kann.", plätscherte sie munter. "Aber ich bin nicht die Stärkste auf der Welt. Die Sonne ist viel stärker als ich. Sie kann mich versiegen lassen."

Blinzelnd sah die kleine Maus zum Himmel. "Guten Tag, liebe Sonne.", rief er zweifelnd, ob sie ihn wohl hören könnte. "Du bist stärker als die Quelle. Sag mir, bist du die Stärkste auf der Welt und willst du mein Freund werden?" Er lauschte angestrengt. Da vernahm er wirklich eine ganz sanfte Stimme.
"Mäusejunge, du bist doch schon mein Freund. Immer, wenn du der kleinen Blume Geschichten erzählst, höre ich dir so gern zu." raunte sie leise und stupste ihn mit einem dicken Sonnenstrahl vergnügt auf seine runde schwarze Nase. "Aber ich bin nicht die Stärkste auf der Welt. Der Wind ist viel stärker als ich und er ist ein frecher Lümmel. Wenn er schlechte Laune hat, schiebt er mir einfach so dunkle Wolken vor das Gesicht, dass ich gar nichts mehr sehen kann."

Das hatte der Wind natürlich gehört und schon kitzelte er die Sonne lustig pfeifend mit einer Schäfchenwolke, bis sie niesen musste. 
"Oh, du bist der Stärkste!", bewunderte Tobi den Wind. "Willst du mein Freund werden? Bitte!"
"Ach du!", rauschte der Wind lachend, "Ich liebe es, wenn du deine Lieder auf den Grashalmen spielst. Hörst du nicht, wie ich immer mitsinge? "Aber ich bin nicht der Stärkste auf der Welt. Der hohe Turm ist viel stärker als ich und das ärgert mich. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann ihm nichts anhaben. Nicht einmal meinem großen Bruder, dem Sturm, ergeht es besser. "

Sehr verwundert sah der kleine Mäusejunge auf seinen vertrauten, alten Turm. "Mein lieber Turm.", sprach er zaghaft. "Du bist der Stärkste auf der ganzen Welt, sogar stärker als Wind und Sturm. Willst du mein Freund werden?"
Es war eine Weile still und Tobi wollte gerade mutlos in seine Höhle zurückkriechen, da hörte er erschrocken, wie es über ihm knackste und krachte. "Oh ja", knirschte der Turm langsam und bedächtig. "Der Sturm kann mich nicht besiegen, das ist wahr."
"Aber, ich wäre gern dein Freund, denn du bist viel stärker als ich.", stöhnte er.
"Ich? Ich bin stärker als du?", stammelte Tobi fassungslos.
"Wieso ich?", rief er und war nun richtig empört über so eine gemeine Lüge.
Doch der Turm klagte traurig: "Wenn du weiter so fleißig an deiner Höhle gräbst, werde ich wohl eines Tages einstürzen.",.
Da entschuldigte sich Tobi erschrocken: "Oh, bitte verzeih mir! Das wusste ich nicht.".
"Ich möchte gern dein Freund sein, du starker Turm, und ich verspreche dir, dass ich nicht nie mehr graben werde. Meine Höhle ist schön und groß genug. Einverstanden?"
"Ich danke dir. Mit dir als Freund muss ich keine Angst mehr haben" , seufzte der Turm erleichtert.

Tobi kam nachdenklich zur Quelle, die schon fröhlich vor sich hin plätscherte, um das Abendwasser für Goldköpfchen zu holen.
Er bemerkte erstaunt, dass die Schale viel leichter war als sonst. "Ich bin wirklich stark.", sagte er stolz zu seiner Freundin, nachdem er ihr seine Geschichte erzählt hatte.
"Und ich habe so viele starke Freunde!", schwärmte er. Dabei nickte er der Sonne zu, die sich gerade hinter dem Hügel schlafen legen wollte, winkte dem Baum, und ließ sich lachend vom Wind hinter den Ohren zauseln. Alle Traurigkeit war vergessen.

Als Tobi sich verabschiedete, küsste er Goldköpfchen glücklich mitten auf ihre gelbe Blüte und flüsterte in ihren Blütenkelch "Aber du bleibst mir immer die liebste Freundin von allen!"

Und es war ein Glück, dass die Abendsonne ihr verschwörerisch ein paar rote Strahlen schickte, sonst hätte der große, starke Mäusejunge Tobias vielleicht doch noch gesehen, wie seine kleine gelbe Blume ganz orange vor Freude wurde.
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