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Schuldig

Kerstin Jäckel © 2/2003

Tom hörte harte, entschlossene Schritte durch den Hausflur hallen und wusste sofort, dass sie zu Staps gehören mussten. Sein Körper straffte sich. 
Erst in diesem Moment gestand er sich ein, wie groß seine Angst war. 
Angst, ihre Wohnung zu betreten, ohne dass sie ihn freudig überrascht anstrahlen würde, in ihre viel zu großen Hausklamotten gehüllt. 
Angst, die obligatorisch immer frisch mit zu starkem Kaffee gefüllte Thermoskanne zu vermissen, an die er sich so schnell gewöhnt hatte. 
Angst vor der Gewissheit, sie würde ihm heute nicht in ihrer unnachahmlichen Art entgegeneilen, überaus geschickt, mit den dreifach sockenüberzogenen Füßen, die letzten freien Teppichflecken treffend, Berge von Zetteln, Büchern, Unmengen von Stiften und mit Leuchtmarkern angestrichenen Rechnungen umgehend.

Oberkommissar Staps streckte ihm die Hand entgegen und während Tom sie eher mechanisch ergriff, wunderte er sich, aus welcher Kraft jemand, der seit über 25 Jahren mit den dunklen Seiten des menschlichen Wesens konfrontiert wird, wohl ein solch warmes Lächeln in den Augen beziehen konnte. Staps war nicht größer als er, aber kräftiger, sportlich schlicht mit dickem Rollkragenpullover und schwarzen Jeans bekleidet. Er strahlte Menschenkenntnis und Güte zugleich aus und Tom ergab sich aufatmend seiner väterlichen Art.

Gefasst zog er seinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete in gewohnter Weise die Tür. Den etwas verblüfften, aufmerksamen Blick, mit dem Staps seiner Bewegung folgte, verstand er sofort. Sicherlich hatten sich die Beamten vom LKA mit diesem Schloss genauso gequält, wie er noch vor einem Jahr. Der Trick, den Schlüssel beim Drehen leicht nach rechts zu verkannten, hatte ihm einige Wochen fluchender Übung abverlangt. Langsam gab die schwere Holztür leise knarrend den Anblick auf ein unvorstellbares Chaos preis.

Obwohl Tom an diesen Ort nicht unbedingt Vorstellungen von Normalität und Ordnung knüpfte, wusste ihn dieses Maß an Verwüstung doch zu überraschen. Der Boden war bedeckt mit riesigen Klumpen zusammengeknüllter, farbiger Folien, und die Schränke sahen aus, als wären sie in einer intensiven Vorbereitung für die Fastnacht vertieft - über und über mit Fetzen kantig abgerissener Übertragungsbänder bedeckt. Als einzig verschonter Bereich schien sich der zu seiner vollen Größe ausgezogene Esstisch behauptet zu haben. Mit einer grüngerasterten Cuttermatte abgedeckt, konnte er ungewöhnlich ordentlich aufgereihte Cutmesser und Rakeln verschiedener Härte vorweisen.

„Sehen Sie!“, entfuhr es Tom beinahe tonlos, „Sehen Sie, das ist ihr großer Auftrag!“ 
Staps sah ihn prüfend an. 
„Was für ein Auftrag?“, wollte er wissen.
“Die Straßenbahn, ihre Straßenbahn“ stammelte Tom, deutlich überfordert in seinem verzweifelten Bemühen, angesichts ihrer Umgebung und fast körperlich spürbaren Nähe, seiner Erschütterung auch nur halbwegs Herr zu werden.
„Sie hat Monate lang um diesen Auftrag gekämpft.“ Mit diesen Worten wandte er sich den Stapeln drei Meter langer Folienbahnen zu, die sorgsam abgedeckt mit Zwischenlagen aus einem pergamentähnlichen Stoff, gleichmäßig aufgeteilt über den Stühlen hingen.

In diesem Moment fiel der Schleier von seinen Augen, wich Julias Bild aus seinen Hirnwindungen und kreiste das Blut wieder in seinen Adern. Sein Geist arbeitete akkurat und blitzschnell. Alle Informationen der letzten Monate standen nun gefügig und klar bereit. Gezielt sah er die einzelnen Plottstreifen durch, hatte all die Varianten und Konzepte gegenwärtig und richtete sich nach wenigen Minuten zufrieden auf.

„Sie hatte alles geschafft, wie ich es vermutet habe. Ihr Auftrag war komplett.“, erklärte er dem noch immer reglos im Raum stehenden Kommissar, in bestimmtem Ton und viel zu laut. „Sie lebte für diesen Augenblick, in dem sie einem Kunden die Verwirklichung ihrer Idee stolz präsentieren würde. Dafür gab sie alles.“, fügte er leiser und etwas verlegen hinzu. 

Staps kam nun doch näher, klopfte ihm, ganz seiner robusten Art entsprechend, beruhigend auf die Schulter und ging nachdenklich auf den Balkon. 
Die Gartenstühle um den kleinen Partytisch waren schon immer genau so angeordnet, wie Tom sie jetzt sah. Doch heute erschien ihm die Kombination aus Stuhl und Tisch wie Treppenstufen. 
Eine Treppe in einen mühelosen Tod...

Er wandte sich ab. Sein Herz schien auf seinem Zwerchfell Trampolinspringen zu üben, der Brustkorb schnürte ihm verweigernd die Luft ab und der Druck in seinem Kopf steigerte sich ins Unerträgliche.
Zum Glück kehrte Staps in diesem Moment wieder ins Zimmer zurück.

Mit einer leichten Kopfbewegung wies er auf den Notebook, der auf dem Boden, schier unter Post-Its vergraben, noch aufgeklappt neben dem Plotter stand, dessen Willen er über ein unpraktisch kurzes Kabel diktiert hatte.
„Kennst du das Passwort?“, fragte er ihn mit ruhiger, tiefer Stimme. Tom nickte geistesabwesend. 
„Wenn du das Passwort kennst, so könntest du darin vielleicht noch Hinweise finden, die deinen Verdacht bestätigen.“, erklärte Staps unbeirrt seinem reglosen Begleiter.

„ Ja, ja, natürlich kenne ich Julias Passwort. Ich bin doch ihr Freund.“, murmelte Tom leise. 
Vorsichtig schob er all die Skizzen und Ausdrucke zu Seite, die den Boden in mehrfachen Schichten bedeckten, zog große Fetzen verschiedenfarbiger zusammenhängender Folienreste vom Teppich und ließ sich beinahe schwerfällig im Schneidersitz in dieser Insel vor Julias Notebook nieder. Hilflos fragend sah er zum Kommissar.

Dieser lächelte ihn verständnisvoll an und sagte kurz: „Ich habe noch Termine. Ich lass dich jetzt allein. Die Spurensicherung ist hier ohnehin durch. Lass dir Zeit. Wenn dir irgendetwas auffällt, ruf mich über Funk an. Kopf hoch, Junge!“ Mit diesen Worten drückte er Tom seine Visitenkarte in die Hand ging mit so resoluten Schritten zur Tür, dass selbst das Papier unter seinen schweren Schuhen nur zaghaft knisterte. Kurz bevor die Tür sich schloss, hörte Tom noch ein unwilliges Schnaufen, begleitet von einem reißenden Geräusch. 
Kommentarlos flog ein zusammengeknüllter Ball aus Übertragungsband durch den sich verengenden Türspalt.

Mit dem Einschnappen des Türschlosses versagte die innere Spannung Tom sichtbar den Dienst. Er sackte förmlich in sich zusammen.
Fast mechanisch drückte er auf den Einschaltknopf des Notebooks und verfolgte die Anzeige der aktiven Laufwerke auf dem spartanischen DOS-Bildschirm ohne Blick.
Erst der unvermeidliche Windows-Eröffnungsklang, den er sonst immer spöttisch abfällig kommentierte, ließ ihn wieder zurückfinden, wie der ersehnte Ruf der Normalität, die Stimme eines Vertrauten.

Er betrachtete, wie immer kopfschüttelnd irritiert, Julias Desktop. Sie war unverkennbar ein Apple-Fan und nutzte, in Ermangelung der entsprechend nötigen Finanzgewalt, den PC in einer ihm unverständlichen Weise, als hätte sie ihren Traum- MAC vor sich.

„Du meine Güte!“, murmelte er leise, „Wenn das Pentagon so arbeiten würde, könnte es die Spionageabwehr einsparen!“
Seit er sie kannte, war ihre Antwort auf seine Kritik, immer nur ein entwaffnendes, schelmisches Lächeln mit den Worten: „Ich finde alles.“

Routiniert ließ er nach Dateien suchen, die in den letzten zwei Wochen geändert worden waren. 
Natürlich war ihm bewusst, dass nur Veränderungen bis zum letzten Donnerstag gefunden würden. Und doch verfolgte er mit angehaltenem Atem, wie sich das Fenster der Suchergebnisse füllte. Entgegen aller Logik und Vernunft war er erschüttert, als sich seine Vorhersage so strikt erfüllte. 

Kein Eintrag in den letzten fünf Tagen, obwohl doch sein Gefühl in jeder Sekunde darauf wartete, Julia voll bepackt und mit einem großen Stapel Feinfrost-Pizzas lachend durch die Tür kommen zu sehen. Wieder spürte er kurz, wie sich sein Hals so schmerzhaft verengte, dass er nach Luft rang.
Tom zwang sich zur Konzentration. Die Liste der benutzten Dateien war lang. 

Nach einigen Stunden schien es ihm, als hätte er unendlich viele Entwürfe ihres Projektes angesehen. Er fand seine Ansicht mehr als bestätigt. Kein Mensch, der so intensiv um das letzte i-Tüpfelchen der Perfektion ringt, wäre fähig, seinem Leben einen Augenblick vor diesem Ziel ein Ende zu setzen. Egal, aus welchem Grund auch immer. 

Inzwischen hatte er das Licht anschalten müssen und noch immer hockte er auf der Erde vor dem Rechner, aber schon lange nicht mehr im Schneidersitz, sondern liegend, abgestützt mit Julias Sofakissen, ohne noch auf die empört raschelnden Papierschichten zu achten. Sogar ihren Kaffeeboy hatte er in Betrieb genommen. 

Endlich hatte er Gewissheit, deren Erleichterung ihm allerdings verschlossen blieb. Ganz zweifellos war die Frau, die er schon bald hatte heiraten wollen, einem Verbrechen zum Opfer gefallen.

Seufzend gab er die chronologische Abarbeitung der Auflistung auf und schränkte die Suche nun direkt auf den Unglückstag ein.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, warum er diesen Weg nicht gleich eingeschlagen hatte. Es war die Endgültigkeit, die ihm nun unausweichlich begegnen würde.

Der Name der aktuellsten Datei ließ ihn erschauern: 
„Tagebuch_eines_Traums“. 

Mit zitternder Hand und vier oder fünf Mausklicks öffnete er ein Dokument von 245 Seiten. 
Seine Verwirrung trieb ihn hoch. Er musste sich bewegen, hatte keinen klaren Gedanken mehr. Ein Tagebuch! Er hätte sie für viel zu quirlig gehalten oder auch zu beschäftigt mit ihrer kleinen Werbeagentur, um ein Tagebuch zu schreiben.
Schon kniete er wieder vor dem Notebook, um zu sehen, wann sie damit begonnen hatte: 
„1. Januar 2001“. 
Hektisch scrollte er durch die Seiten, fand Texte, auch Gedichte und entdeckte schon beim Bildaufbau immer wieder seinen Namen. 

Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Hatte er überhaupt das Recht, ihre geheimsten Gedanken zu lesen? Plötzlich fühlte er sich in dieser ihm so vertrauten Umgebung wie ein mieser Einbrecher. Schlagartig wurde ihm wieder in voller Härte bewusst, dass sie ihm nie wieder, wie beiläufig, mit der Hand durch das Haar fahren würde, ihm auch nicht mehr kichernd Salz in den Kaffee streuen konnte.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon blicklos das Display angestarrt hatte. Leise stöhnend, weil ihm die Beine eingeschlafen waren, stand er auf und holte humpelnd einige Disketten von ihrem Vorratsstapel. Erst als er das Tagebuch doppelt sicher auf zwei Disketten und in seiner Jackentasche verwahrt wusste, wurde er ruhiger. Was für eine Vorstellung, wenn ein Stromausfall alles vernichten würde. 

Er rief Staps an und erst das lange Klingeln machte ihm bewusst, dass Mitternacht bereits vorbei war. Verlegen entschuldigte er sich und schilderte ihm dann seine Entdeckung. Staps blieb gelassen und riet ihm, erst einmal schlafen zu gehen und das Tagebuch später, dann aber sehr genau, zu lesen. 

Tom war zufrieden. Er fühlte sich nun legitimiert, sozusagen in Julias Auftrag, Einblick in ihre Seele zu nehmen.
Rasch zog er das Druckerkabel ab und trug den Rechner vorsichtig zum Tisch, den er sich ans Sofa zog. Mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee begann er, in erstaunlich gesammelter Verfassung, Julias erste Aufzeichnung an ihrem letzten Neujahrstag nachzuvollziehen. 

Er las stundenlang ohne Unterbrechungen und registrierte den Schmerz in seiner Brust schon nicht mehr, hatte aufgegeben, die Tränen zu trocknen, die ihm immer wieder den Blick auf ihre Worte verwehrten und seine Nase war vom Toilettenpapier schon heuschnupfenartig gerötet, als er plötzlich entsetzt aufsprang.

Wie hypnotisiert starrte er auf die Zeilen und las sie halblaut und langsam vor:

„ 3. September 2001
Heute war ich beim Müller-Finanzdienst, um ihm die Änderungsvorschläge zu zeigen und auch noch mal den Endpreis festzumachen. Er war sehr zufrieden mit den Entwürfen und hat über den Preis auch nur leise geknurrt. Wenn der Müller nicht aufpasst, hat er mit 35 seinen Herzinfarkt.

Bei der Heimfahrt ist es wieder passiert: 
ER war auf dem Bahnsteig! 
Woher weiß ER nur, wann ich fahre? Ich sehe seine kleinen, graublauen Augen noch immer vor mir. ER hat einen stechenden Blick, und das Abstehen des linken Auges lässt ihn noch bedrohlicher wirken. 
Ich fürchte mich vor der Art, wie er mich mustert. 
Sie hat etwas Abfälliges, Vernichtendes. 
Wieder hatte ich das Gefühl, als ob ER genau wüsste, was ich denke. 
Ich kenne ihn. Aber woher? 
ER ist vielleicht 35 oder 40. Sein Haar ist noch relativ dicht und wellig. Ein Kunde? 
Zum Glück wartet ER immer auf eine andere Bahn.“

Alle Müdigkeit war nun von ihm abgefallen. Hochkonzentriert überflog er die Eintragungen der nächsten Tage auf der Suche, nach dem Mann, der Julia so ängstigte und dem sie offensichtlich schon einige Male begegnet war. Und tatsächlich fand er reichlich zwei Wochen später einen weiteren Hinweis auf ihn:

„19. September 2001
Ich schwöre, dass ich nie wieder mit der S-Bahn fahre! 
Ich sollte sowieso endlich öfter das Auto nehmen. Warum kann ich mich nur so schwer dazu überwinden? Blanke Feigheit! Der Unfall ist nun schon anderthalb Jahre her.

Heute ist ER doch in meine Bahn eingestiegen. 
Warum plötzlich? ER lauert mir auf. Ganz sicher! Und sieht mich böse an, als wollte ER mich bestrafen, weil ich ihn so lange warten ließ. 
Ich bin im allerletzten Moment, zwei Stationen zu früh, aus dem Wagen gesprungen. ER sah so wütend aus, dass ich fürchtete, die Fenster würden springen und er könnte mich doch noch packen.“

Toms Herz raste, aber er suchte fieberhaft nach weiteren Beschreibungen. 
Erst Mitte Oktober fand er einen ähnlichen Vorfall:

„11. Oktober 2001
Der Termin für das Bekleben der Straßenbahn rückt gnadenlos näher. Ich habe fast nur noch zwei Wochen. Müller will noch einige Änderungen. Wo ist denn plötzlich sein Geiz? Noch drei Grafiken mehr! Das kostet mich einen ganzen Tag, den ich nicht habe. Ich brauche Schlaf !!!
Ich bin so fertig. Das Auslösen dauert fast die doppelte Zeit, weil meine Hände ständig zittern. 
Ich kann nicht mehr schlafen!

Heute bin ich ihm wieder begegnet. Hier, in dieser Straße! Was will ER hier? In meiner Straße! Ich bin schon nicht mehr mit der S-Bahn gefahren. Und nun ist ER hier.
Ich habe ihn aber abhängen können. Bin ewig Umwege gelaufen und gerannt, wie um mein Leben. 
Ich fürchte mich vor ihm!“


Die Hand umschloss krampfhaft das Handy. Seine Augen schmerzten vor Anstrengung, aber er gönnte ihnen keine Pause, sondern überflog so gehetzt die nächsten Seiten, als gelte es ein Unglück aufzuhalten.
Und wieder ein Bezug auf den Unbekannten:

„21. Oktober 2001
Dieser Auftrag treibt mich in den Wahnsinn. 
Dieser schreckliche Kerl schleicht ständig ums Haus. 
Ich bin am Ende! 

Gestern habe ich ihn vom Fenster aus erkannt. Seine Brille spiegelte die Sonne direkt in mein Zimmer. Das bedeutet, dass er weiß, wo er mich finden kann. 
Wer ist ER?
ER ist so groß und hat riesige Hände. 
Mit diesen Händen wird er mich schlagen. Mitten ins Gesicht. 
Ich weiß es. Ich spüre es …“

Mehr fand er nicht auf Anhieb, aber das reichte ja auch! Fassungslos tippte er die Nummer vom LKA, was ihm erst nach mehreren Versuchen fehlerfrei gelang. Diesmal musste er nicht auf die Uhrzeit achten, denn draußen war es längst hell. Staps meldete sich sofort, hörte seinen erregten Schilderungen stumm zu. Tom las ihm alle Hinweise, die er gefunden hatte, im Originalwortlaut vor.

Gemeinsam trugen sie die Merkmale des Tatverdächtigen noch einmal zusammen. Staps ergänzte die Haarfarbe in der Beschreibung, auf Grund der statistischen Wahrscheinlichkeit, als dunkel, da Julias Altersabschätzung nicht auf ein Grau schließen ließ. Eine neue Befragung der Nachbarschaft war zu beauftragen, Recherchen zu starten. 
Arbeitsname sollte „ER“ sein.
Sie vereinbarten, dass Tom weiter und gründlich die Aufzeichnungen durchgehen sollte, was er auch sofort tat.

„23. Oktober 2001
Ich kann das klopfende Geräusch des Plotters fast nicht mehr ertragen. Es hämmert sich in mein Hirn, mein Herz ahmt seinen Rhythmus nach und ich spüre ihn in den Fingerspitzen. Es gibt schon kaum noch eine Stelle an meinen Fingern, die ich nicht schon mit dem Cutmesser erwischt habe, die nicht von der Pinzette perforiert wäre. Morgen müsste ich fertig werden. Es wird auch höchste Zeit. Ich bin so fertig. 
Tom fehlt mir.“

„24. Oktober 2001
Meine Vorräte werden knapp. Gut, dass Tom übermorgen endlich kommt. Ich kann nicht raus. 
ER kreist ständig um das Haus. 
Wann immer ich aus dem Fenster sehe, ist ER da. 
ER weiß, dass ich ihn sehe. Droht mir höhnisch grinsend mit dem Zeigefinger.
Es ist fast Mitternacht. Ich muss schlafen.


Gefangen

Erbarmungslos wütet der Sturm,
mal stetig zehrend und zermürbend,
dann wieder zerstörerisch drohend,
und das kleine Haus ächzt und stöhnt.

Wölfe heulen durch die Nacht,
die Hyänen kichern und toben.
Ohnmächtig lauschend kauere ich feige 
in meiner schaurig dunklen Ecke

- und starre gebannt zur Tür.


Mir ist übel. Ich kann nicht schlafen.“


Warum nur? Warum war er nicht für sie da, als sie ihn so sehr brauchte? 
Verzweifelt schüttelte er den Kopf. Er hätte doch London und alle Schulungen geschmissen! Sie hatte ihm nichts erzählt. Sie hat ihn nicht angerufen. Warum?
Erschüttert ließ er die letzte Seite aufblenden.

Er las ihre letzten Worte - und las sie vielleicht hundert Mal, ohne eine Ahnung, was sie ihm sagen könnten. Immer und immer wieder murmelte er sie vor sich hin, als könnte er eine Erklärung beschwören.

„25. Oktober 2001
Ich höre seine Schritte im Hausflur. ER geht ständig hoch und wieder hinunter, um wieder um das Haus zu laufen. Auf dem Treppenabsatz wartet ER dann lange auf mich.
Ich kenne ihn. 
Tom kann mir nicht helfen. 


Hilflos

Verletzt liege ich allein im Dunkel,
spüre nur kalten Boden,
alte Fesseln schneiden sich tief
in die aufgebrochenen Wunden.

Eingeschmolzen in eiserne Hüllen,
getarnt als Erinnerung,
erstarrt in Bildern aus Entsetzen, 
mauert Kindheit mich wieder ein.

Sehe wie gebannt auf Deine Hand,
unerreichbare Chance,
auch wenn Du geduldig und bittend, 
beherzt durch die Leinwand greifst. 


ER wird immer wütender. Hämmert an die Tür. 
Ich werde mich entschuldigen müssen. Ich habe es verdient. 
ER hat es mir gesagt. 
ER wird mich trotzdem bestrafen. 
ER hat den Schuhanzieher dabei . er war doch kaputt ... am Ofen zerbrochen.
ER wird einen neuen haben!
Ich weiß, dass ich nicht schreien darf. 
Ich werde nicht schreien …“


Tom schreckte erst aus dem Schlaf hoch, als Staps die Tür öffnete.
Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte er den Oberkommissar an, der sich stumm neben ihn setzte und Julias Zeilen las.

„ER ist ihr Vater, wie sie ihn vor 20 Jahren kannte.“ sagte Tom leise. 
Nun hat er sie doch noch eingeholt. Sie ist vor ihm geflohen.

Staps nickte,
„Es gibt zwar einen Schuldigen, aber keinen Täter!“, 
und diesmal war das Lächeln aus seinen Augen verschwunden.
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