Ein klarer Fall von Reue
Minouche © 2004



Eigentlich wollte er nach der Schule direkt nach Hause fahren. Aber die Sonne schien, und er hatte keine Lust zu den Hausaufgaben. Außerdem wollte er sein neues Fahrrad ausprobieren, das er zu seinem zwölften Geburtstag endlich bekommen hatte. Ein echtes Trek 1000 mit Aluminium Wing Gabel und einer 24-Shimano-Gangschaltung. Cool. Richtig cool. Sein Freund hatte das gleiche Rad. Und seinen Freund fand er sowieso total cool. Er brauchte volle 2 Monate Überredungszeit, um seine Eltern zu bequatschen, ihm das Rad zum Geburtstagsgeschenk zu machen. Schließlich kostete es fast 800 Euro. Aber er bat einfach alle Omas und Opas und Tante Else, ihm Geld zu schenken und so, endlich, bekam er sie doch herum. Zärtlich strich er über den rot-silber-geflammten Rahmen. 24 Gänge. Echt, ein Hammerteil, auf dem er da saß. Eben cool.

Er beobachtete eine alte Frau, die eben aus der Sparkassenfiliale kam, der gegenüber er stand. Die sah ja nun auch nicht mehr wirklich fit aus. Ein Bein zog sie nach, sie hinkte. Stützte sich auf eine Krücke. Er war fest davon überzeugt, dass er niemals so alt werden würde, dass er Krücken brauchte. Nicht mit diesem Rad unter dem Hintern. Hinter der alten Frau kam ein Geschäftsmann heraus. Er hatte es wohl eilig, denn er rempelte sie leicht an, sie kam ins Taumeln und verlor dabei ihre Handtasche. Das Portemonnaie fiel heraus und stand offen. Eine Menge Euro-Scheine sah er, die hervorlugten aus der Börse. Ein Schlüsselbund lag gleich daneben. Mühsam hängte sich die alte Frau ihre Krücke an den rechten Arm und bückte sich langsam, um ihre Habseligkeiten wieder aufzusammeln. Sie schaffte es kaum in die Hocke. Dann raffte sie unendlich langsam alles zusammen und stopfte es zurück in ihre Tasche. Murmelte etwas dabei. Vielleicht war sie ungehalten, dass der Mann, der sie angerempelt hatte, ihr nicht mal beim Aufheben ihrer Sachen half, denn sie sah böse aus und ihre Augenbrauen waren gerunzelt.

Dann hatte sie alles wieder verstaut, hängte sich die Tasche an den Arm, nahm die Krücke wieder in die Hand und humpelte die Straße hinunter im Schneckentempo.

Irgendetwas trieb ihn. Eine Stimme, die sagte: „Jetzt ! Oder nie !“

Er fuhr los und schaltete in die nächsthöheren Gänge. Er beschleunigte unglaublich, mein Gott, was für ein Rad !!! Die Frau war ungefähr 20 Meter weit gegangen, als er sie erreichte. Er beugte sich seitlich am Rad herunter und kam sich genauso vor wie Kevin Costner in diesem geilen Indianerfilm. Er war ein Indianer. Ein Indianer, der fliegen konnte und etwas Besseres als einen lahmen Gaul unter dem Arsch hatte.
Ein Griff und er hatte sie, die Tasche. Und Gas !!!!!! Nichts wie weg ! Sein Rad ließ ihn nicht im Stich, er fuhr wie der Teufel die Straße bis zum Ende, bog um die Ecke und in den Park ab.
Dort fuhr er in einen Nebenweg, fand ein Gebüsch und versteckte sich dahinter.

Sein Herz schlug bis zum Hals, er war schweißnass. Mein Gott, was hatte er getan ! Seine Eltern würden ihn umbringen, wenn sie das erführen ! Er sah förmlich ihre Gesichter vor sich, sein Rad würden sie ihm wegnehmen. Er käme womöglich ins Gefängnis ! Kamen nicht schon Kinder ins Gefängnis ? Aber der Kick ! Wow ! Er saß ganz still und wartete ab, aber niemand kam, um ihn festzunehmen und Polizeisirenen hörte er auch noch keine. Langsam sank der Adrenalinpegel in seinem Blut und er öffnete mit zitternden Händen die Tasche. Da war es, das Portemonnaie. Er öffnete es. Nahm das Geld heraus. 800 Euro in bar. Soviel Geld ! Soviel, wie sein Rad kostete. Nun könnte er sich auch noch den neuen Game Cube von Nintendo leisten, ganz sicher ! Er überlegte fieberhaft, wie er es seinen Eltern erklären sollte, dass er auf einmal zu so einem Reichtum gekommen war.

Sicherheitshalber spähte er um die Ecke, ob ihn auch niemand beobachtete. Am Teich war niemand, nur die Enten. Oder ? Er hörte Schritte. Langsam und schlurfend. Mein Gott ! Es war diese Frau ! Die Frau, die er eben beklaut hatte ! Was wollte sie denn nur hier ?

Sie ging zum Wasser und fischte eine Tüte mit Brot aus einer Manteltasche. Dann warf sie tatsächlich den Enten Brot ins Wasser. Ihre Handtasche wurde eben geklaut. Mit 800 Euro drin. Spann die denn ? Warum war die nicht bei der Polizei ? Oder ging man da nicht hin, in so einem Fall ? Er würde zur Polizei gehen, wenn ihm jemand sein Rad stehlen würde, ganz sicher ! Er hatte sogar die Rahmennummer registrieren lassen, damit es geortet werden könnte, wenn es jemand stahl.

Sie krümelte ganz ruhig das Brot in ihren Fingern und warf die Brocken in das Wasser. Die Enten kamen laut schnatternd heran. Er schaute angestrengt zu ihr hin. Hatte sie wohl einen Plan ? Aber nein. Hatte sie wohl nicht, denn nun drehte sie sich etwas, und er konnte ihr halb ins Gesicht sehen. Ihre Augen schauten kummervoll und dicke Tränen liefen ihre Wangen herunter. Sie weinte bitterlich.

Wahrscheinlich um ihr Geld. Er würde auch weinen, wenn ihm jemand das Fahrrad stehlen würde. Ganz sicher würde er weinen, das wusste er genau. Dann wandte sie sich wieder den Enten zu und fütterte sie mit den Brotkrumen.

Er wusste nicht so recht, was er tun sollte, denn irgendwie richtig freuen konnte er sich nun auch nicht mehr über seine Beute. So kroch er wieder ins Gebüsch zurück und inspizierte das Portemonnaie genauer. Da waren die 800 Euro. Fotos im rechten Seitenfach. Und ein Pass, der war auch drin. Isolde Lautenschläger. Was für ein Name, dachte er. So ein richtig oller Name. Aber die Fotos waren hübsch. Ein Mann in Militäruniform. Schwarzweiß und sehr gelbstichig. Sah aber irgendwie cool aus. Wahrscheinlich ihr Mann. Und ein Bild mit einem Jungen in seinem Alter. Der Junge stand Arm in Arm mit seinem Vater auf einem Boot und lachte ihn an. Dann fiel ein Zettel aus dem Portemonnaie. Er faltete ihn auseinander. R e n t e n b e s c h e i d stand darauf. 800 Euro. Er hatte dieser alten Frau die Rente geklaut, die sie eben aus der Sparkasse abgeholt hatte. Nahm er jedenfalls an. Und plötzlich war ihm zum Heulen zumute. Er dachte an das Foto mit dem Jungen und dem Mann auf dem Boot. Und an seine Eltern. Einer alten Frau die Rente klauen. Echt das Letzte. Sein Vater würde nie mit seinem Sohn, dem Dieb, Arm in Arm dastehen und in eine Kamera lachen. Ganz schön schäbig, die Situation. Echt uncool, würde sein Freund sagen.

Unweit des Ufers, wo die alte Frau noch immer stand und weinte und Enten fütterte, war eine Parkbank. Sein Entschluss war schnell gefasst. Er packte das Portemonnaie wieder in die Handtasche. Er holte aus seinem Rucksack seine Federmappe und einen Zettel, den er aus seinem Matheheft riss. Dann nahm er seinen Füller, legte den Zettel auf die Handtasche als Schreibunterlage und schrieb in seiner schönsten Schreibschrift: Es tut mir leid. Guido.
Den Zettel faltete er zusammen und steckte ihn zu dem Portemonnaie in die Handtasche.

Als er alles wieder verstaut hatte, setzte er sich auf sein Rad . Die Handtasche versteckte er unter dem Parka. Er hätte es nicht brauchen, denn die alte Frau sah ihn nicht. Sie stand versunken am Teich und fütterte Enten. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie ihn nicht sah, legte er die Handtasche auf die Parkbank. Er bekam Angst. Vielleicht sähe sie sie nicht in ihrem Kummer ? Am Ende machte sie noch Quatsch ? Er hatte mal gehört, dass es Leute gibt, die Quatsch machen, wenn sie traurig sind. Seine Mutter hatte ihm das mal erklärt. „Dieser Quatsch endet dann im Krankenhaus oder auf dem Friedhof“, sagte sie.

Also ging er lieber auf Nummer sicher. Er pirschte sich mit seinem Rad im ersten Gang, wie ein echter Indianer, heran an die alte Frau. Ganz leise, sozusagen. Neigte sich im Fahren zur Seite und tippte ihr im Vorbeifahren leicht auf die Schulter. Sie drehte sich halb. „Auf der Parkbank! Entschuldigung! “ sagte er laut, denn er wusste, dass alte Leute manchmal schwer hören. Tante Else hörte extrem schwer. Man musste alles zweimal sagen.

Er sah noch ihren verblüfften Gesichtsausdruck, dann gab er Gas und schaltete die Gänge fast schneller hoch, als die Mechanik es packen konnte. Er fuhr wie der Wind und fühlte sich besser.

Der Game Cube von Nintendo hatte vielleicht noch etwas Zeit. Vielleicht zum nächsten Geburtstag.

Er fuhr auf der Hauptstraße und die Autos nervten ihn. Er bog in die Fußgängerpassage ab und betrachtete die Menschen, die sie entlanggingen. Er sah ein junges Mädchen. Es hatte gerade am Geldautomaten Geld geholt und in ihre Tasche gesteckt.
Sie ging Richtung Innenstadt.
Die Tasche hatte einen nur sehr dünnen Riemen..........









____________________________________

 

 

 

Weitere Kurzgeschichten von Minouche:

Dunkel glühender Stern

Vollkontakt

Ein Strauß Leben

(Ge-)Fallsucht

[ Ein klarer Fall von Reue ]

 

zum Prosaportal

 

Gedichte von Minouche

 

 

 

(zurück) zu Minnies Profil auf den Feiertagen der Eskimos