Erwachen

 

Es traf sie wie ein Schlag.
Es war nicht nur ein Schlag.
Blitze hämmerten auf sie ein, stolze Schlösser stürzten in sich zusammen wie Sandburgen, die von Flutwellen ereilt werden.
Tausend alte Filme liefen ab.
Das kleine Mädchen, das in die Arme des Vaters rennen will, als der sich plötzlich abwendet und fortan nie mehr näher als fern bleiben sollte.

In ihren Träumen hatte es da immer diesen langen Steg gegeben, der in die Wolken führte und die Schwerkraft aufzuheben schien.
Und dieses Krokodil, bei dessen Anblick sie immer so lachen mußte. Vielleicht, weil es blau war. Oder weil es so komisch sprach.
War wohl gut, daß sie nie echten Krokodilen begegnet war, denn der blaue Freund hatte ihr jeden Respekt vor der gefräßigen Spezies genommen.

Der war jetzt so weit weg.
Wieder dieser Krater der Selbstzweifel.
Turbulenzen, ein nimmer endender Strudel, der sich immer wieder im Nichts verlaufen will. Und darunter. Weit darunter.

Drei Wochen war es her, daß da plötzlich was zu sein schien, was ewige Geborgenheit verspräche.
Und die zwei-drei Monate davor, in denen sie sich plötzlich so geborgen gefühlt hatte, ohne zu wissen warum.




Die 30 stand nah bevor. Nur so eine Zahl.
Und in fünf Jahren? In zehn?
Kein Kind, das man jetzt in den Arm nehmen könnte, um eigentlich selber umarmt zu werden. Nur immer die endlos vielen laut lärmenden Kinder in der Schule, einer Institution, die nie mehr zu betreten sie sich eigentlich geschworen hatte.
Ihre frühere Klassenlehrerin hatte sie mal gefragt, was sie einmal von Beruf werden möchte.
"Mutter."

Warum erzähle ich mir nur immer diese niederreißenden, zermarternden alten Schwarzweißfilmchen?
Mutter ist genau das, was ich wohl nie sein werde.

Klar, eigentlich ist nichts leichter als das! Ansehnliche alleinstehende Frauen um die 30 gehören zum Angegrabensden, was es gibt.
Man setzt sich ins Cafe, um dem Plätschern des Flusses zu lauschen und stolze Schwäne zu observieren, und sogleich kommt irgendein Nickelbrillenträger mit Palästinensertuch, um mal eben ungefragt zu erzählen, daß er ja so Angst habe, wieder verletzt zu werden. Und er habe seine Ex ja viel mehr geliebt als sie ihn. Und daß nur wirklich wertvolle Menschen seine Tiefe ergründen könnten.

Moment mal, das ist ja keine Einbildung, da blubbert mich doch tatsächlich gerade jemand voll....
"Verpiß Dich!"



Ihre Stimme war laut wie noch nie. Die Hände zitterten.
Dann kam das Tränenmeer.
Was hatte er ihr alles in so kurzer Zeit bedeutet. Immer, wenn sie diese Traurigkeiten überfielen und völlig einzuhüllen drohten und er wie von Gott gerufen ihren Weg kreuzte, ihr zuhörte und sein Blick zu spiegeln schien, er erlebe jedes Wort mit...

Es wollte nicht aufhören.
Um Drei rief ihre Mutter an. Mit verstellter Stimme kurz mal einen auf hektisch machen, man habe einen Termin.
Und weiter weinen.
Und weiter zerplatzen.
Und Schwindelgefühl.
Und Ohnmacht.





Lebendbestattung

Ein Krater fängt mich knarzend ein
Endloser Strudel von nie Vergessenem
im zermürbenden Martern ständig verharrend
Das gestrige Wofür in endloser Folter


Blut siedet im Zerbersten
Seele spritzt und quillt und taut
Flugzeuge stranden tosend an platzenden Schädeln
Höhnend kläffen Cumuli


Wolkentürme steigen gierig grollend auf
donnernde Diener alter Verwundungen
geifern von fern schon giftig grüßend
Schallendes Dunkel im berstenden Tal

Träume zerplatzen im Endlosen Staub
Ängste klirren im Morgentau
widerspenstig würgend
Hoffnung gestrige
im Schallern nur
dahinschwand
im Nichts
längst
tot
!

 


DeGie © 02.04.2003

 

 

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